Die Schneeflocken, gross wie Fünfmarkstücke, fielen schier endlos aus den riesigen grauen Wolken und Jörg fragte sich, wieviel Schnee wohl in der Nacht gefallen sein mochte. Ein halber Meter? Vielleicht sogar ein ganzer? Die Autos jedenfalls waren nur noch als weisse, hügelige Skulpturen wahr zu nehmen. Er musste sich beeilen, denn sonst war Hans wieder schneller und hatte die Einfahrt schon vom Schnee geräumt.
Schnell noch den Schneeanzug übergestreift, Handschuhe an und 'ne Mütze übergestülpt - und dann nichts wie raus. Hans war ein alter Mann, 80 oder so, aber er ging noch jeden Tag in seine Fahrradwerkstatt mit dem kleinen Laden und werkelte vor sich hin. Wenn die Eltern mahnend den Zeigefinger hoben und sagten, das hiesse Herr Blöchinger und nicht Hans, dann zwinkerte er ihm zu und meinte: "A geh, passt scho." Jörg hatte Glück. Heute war der Hans zum Arzt in den Nachbarort gegangen, weil's ihn im Rücken zwickte. So nahm er sich die grosse Schaufel und befreite die ganze Einfahrt von den Schneemassen. Die Kälte machte ihm nichts aus, wusste er doch, dass ihn nach vollbrachter Arbeit eine leckere Tasse Kakao erwartete, von Hans' Tochter, der Pensionswirtin, zubereitet und dampfend heiss serviert. Nach der kleinen Stärkung gings hoch zu den Eltern, die man ruhig, auch wenn sie Urlaub hatten, schon um die Zeit wecken konnte.
Nach dem Frühstück mit frischen Semmeln von einem echten Bäcker, so einem, der noch den Teig anrührt und die Brötchen formt und nicht vorgefertigte, eingeschweisste aufbackt, gings zum Skifahren. Jörg liebte das Skifahren und das Drumherum. Oft stellte er sich zu einem Erwachsenen an den Lift und fachsimpelte ein bisschen übers Material oder das Wachs, was denn wohl bei dieser oder jener Schneebeschaffenheit zu verwenden sei.
Am späten Nachmittag, wenn die Dämmerung hereinbrach, gings zurück in die Pension. Die nassen Klamotten auf die Heizung, den durchgefrorenen Körper in die Badewanne.
Dann hiess es, sich fein zu machen, denn heute war ja Heiligabend und man wollte doch essen gehen. Nicht in die Dorfgaststätte, wie an den übrigen Tagen, sondern in die nahegelegene Stadt. 3 Kilometer durch meterhohen Schnee, weil er ja natürlich nicht auf der geräumten Strasse gehen wollte, so wie die Eltern das taten, wo sie jedoch ein gutes Ziel für Schneeballwürfe abgaben. Mutter grämte sich ob der guten Kleidung, die selbstverständlich völlig eingefroren war. Aber man liess die Kinder, Jörg und seine zwei Brüder, gewähren. In der Gaststätte dann musste man schon einen Platz nahe dem Ofen ergattern, so nass und durchgefroren, wie man war.
Gern hätte der Vater das Essen in Ruhe geniessen wollen, doch die Jungs waren viel zu aufgeregt und drängten zum baldigen Aufbruch, wussten sie doch, dass sie in der Pension die Geschenke erwarteten. Also schnellstmöglich wieder zurück, diesmal auf der Strasse -man wollte ja schliesslich keine wertvolle Zeit mit Klamottenwechsel verlieren- und dann stand man unterm hell erleuchteten Tannenbaum, sang schnell ein paar Weihnachtslieder, bis die Eltern endlich den Startschuss gaben. Und dann flogen sie nur so, die Geschenkpapier- und Schleifchenfetzen. Was mochte wohl in dem riesigen Paket drin sein, auf dem in Schönschrift, Mutter's Werk, "JÖRG" prangte?
Skier und Stöcke. Jawoll. Der Wunschzettel war angekommen. Und da, in dem kleinen? Skistiefel. Und das dreimal. Für jedes Kind eine Garnitur. Schnell angezogen und montiert...und dann wird die Einfahrt runtergerutscht, während sich die Eltern mehr oder weniger an Selbstgebasteltem oder-gemaltem erfreuen.
Danach sitzt man noch eine Weile zusammen, lauscht Weihnachtsliedern und spielt zusammen ein Spiel, bevor die Jungs die Müdigkeit überkommt und einer nach dem anderen ins Bett getragen werden muss. Jörg träumt in dieser Nacht davon, ein berühmter Skirennläufer zu werden und wenn er mal gross sein wird und eigene Kinder hat, dann will er ihnen solche Weihnachtsfeste bereiten.
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Und wenn mir jetzt wieder Emo-Gene unterstellt werden: Ja, und ich bin stolz drauf. Jedenfalls heute.
Seht die Geschichte als eine Hommage an meine Eltern, an meine doch alles in allem recht unbeschwerte Kindheit, aus der solche Tage herausragen.
Das ist etwas, für das ich unglaublich dankbar bin und wenn wir, Trulla und ich, uns in diesen Tagen überlegt haben, wie wir jemandem, der nicht dieses Glück hat, eine kleine Freude bereiten können, uns heute hingesetzt haben und gegenseitig gefragt haben, was unsere schönsten Kindheits- und Weihnachtserinnerungen sind, dann kommt sowas dabei raus.
Danke Mama, danke Papa.
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Ich glaub, ich mach Trulla gleich ein Kind ;)